1.GM - Sein Können

Existenzieller Unterricht gibt Raum, Schutz und Halt

 

Waibel, E.M, Wurzrainer, A., 2016, Motivierte Kinder- authentische Lehrpersonen. Beltz Juventa: Weinheim und Basel

 


 

Der Weltbezug

Ich bin – kann ich sein?

In der 1. GM geht es um den Bezug des Menschen zur Welt und um die Bausteine, die sein Überleben sichern. Die drei Grundpfeiler dafür sind Raum, Schutz und Halt.

Wir müssen uns mit der Welt und ihren Bedingungen auseinandersetzen. Daraus ergeben sich folgende Fragen:

  • Wissen wir, wie wir uns in dieser Welt zu verhalten haben, um am Leben zu bleiben – physisch, psychisch und geistig?
  • Welche Möglichkeiten bietet uns die Welt, um gut zu (über)leben?
  • Welche Bedingungen finden wir vor, und wie können wir gut damit umgehen?
  • Welche Hindernisse stellt uns die Welt entgegen, und wie können wir diese bewältigen?
  • Können wir unter den gegebenen Umständen und mit unseren Möglichkeiten leben?
  • Haben wir Platz in dieser Welt?

 

Aus der Sicht des Kindes ergibt sich daraus ein wesentliches Thema: 

  • Kann es sich in der Familie, in der Umgebung, in der Schule, Klassengemeinschaft… verankern? Wie kann es sein Dasein in der Schule, im Klassenverband als gut erleben und bewältigen?

Dies gelingt, wenn es die Welt und damit die Schule als sicheren Ort erlebt. Voraussetzung dafür sind geschützte Orte und Personen, von denen es wahrgenommen wird, von denen es sich gehalten fühlt, die ihm aber auch Freiräume, Orientierung, Verlässlichkeit, Kontinuität und Verbindlichkeit bieten.

Daraus ergeben sich folgende Fragen:

  • Kann ich unter diesen Bedingungen und unter diesen Möglichkeiten überhaupt (in der Schule) sein?
  • Habe ich einen Platz (in der Schule)?
  • Habe ich dort genügend Platz zum Atmen?
  • Wenn wir in der Welt, in der Familie, in der Schule unseren Platz gefunden haben, können wir die Welt und ihre Bedingungen aushalten und annehmen?

In der Welt verankert zu sein heißt, sich in den vorgefundenen Gegebenheiten und Möglichkeiten einzurichten. Auf diese Weise entwickelt der Mensch das GRUNDVERTRAUEN.

Im Gegensatz zum Urvertrauen basiert das existenzanalytische Grundvertrauen auf Beziehungserfahrungen, die die gesamte Lebensspanne umfassen. „Ihm liegt die Erfahrung zugrunde, dass immer etwas da ist, das auffängt und Halt gibt.“ (Längle, 2001b, S.165)

Daraus resultieren Selbstvertrauen, Selbst – Treue und Ur – Mut, Weltvertrauen und transzendentales Vertrauen. Es erfordert die aktive Zustimmung des Menschen.

 

Schutz

  1. Physisch: Beachtung und Wahrung der eigenen Grenzen; Schutz vor Übergriffen (sexuell, Gewalt, Überbehütung, Bevormundung)
  2. Psychisch: Angenommensein und damit Aufgehobensein durch mich selbst und andere (Familie, Beziehung, Arbeit, Schule, Glauben, ..)
  3. Geistig: Anerkennung und Respekt im Umgang miteinander (Morgenkreis in der Schule mit gegenseitigem Zuhören und Aufeinander–Eingehen)

Schutz erhalten wir durch einen klaren Ordnungsrahmen und durch klare, bewältigbare Anforderungen und transparente Leistungsfeststellungen.

 

Raum

Raum bedeutet, Luft zum Atmen zu haben, nicht am Gängelband geführt zu werden, sich von Erziehenden und Lehrpersonen fortbewegen zu dürfen, nicht immer durch Überpräsenz, Überfürsorglichkeit, Verwöhnung… „besetzt“ zu werden. 

Raum meint neben dem äußeren natürlichen auch den inneren, psychischen und geistigen Raum. SuS sollen sich frei bewegen können und auch frei lernen, sich idealerweise Ziele, Zeithorizonte, Unterrichtsmaterialien, Lernformen und Lernsettings soweit wie möglich wählen können und damit Verantwortung übernehmen für ihren Lernfortschritt.

Auch Ordnung und Ruhe schaffen Raum, daher ist die rasche Behebung von Unterrichts-Störungen sehr wichtig.

 

Räume:

  1. Physisch: eigener Körper, Bewegungsräume, Schutzräume, respektierter eigener Raum (Anklopfen…), Rückzugsräume, Heimat
  2. Psychisch: Beziehung (Lehrperson und Mitschüler/innen)
  3. Geistig:  Raum für eigene Gedanken und Gefühle, für Experimente, eigene Lösungswege, eigene Entwicklung, eigene Lernwege. Es bedeutet aber auch, sich einen Raum gegenüber eigenen Problemen, Gedanken und Gefühlen schaffen zu können, um sich davon zu lösen und zu distanzieren → Selbstdistanzierung. Das ermöglicht eine innere, geistige Freiheit.

Halt

Halt spüren wir in allem, was uns stützt, was sich uns gegenüber stellt oder entgegenstellt, Widerstand bietet, Freiheit und Stabilität darstellt (Boden, Naturgesetze, Regelmäßigkeiten, Rituale, in sich ruhende, gefestigte Erziehende…) Halt in der Schule:

  • regelmäßige Tagesabläufe
  • transparente Tagesorganisation
  • klare Strukturierung der Lernangebote
  • Rituale
  • Regeln
  • authentische und verlässliche Lehrpersonen
  • in sich selbst (Körper, eigenes Wissen, Können, Fähigkeiten wie Kraft und Ausdauer, eigene Leitlinien und Werte). 
  • Sich ein breites Wissen und Fertigkeiten anzueignen, verschafft Halt.

Ebenso bekommen wir Halt durch 

  • die Verlässlichkeit der eigenen Einstellungen und Überzeugungen, Erkenntnisse, Theorien
  • Zuverlässigkeit unserer Gefühle 
  • den Glauben
  • Beständigkeit, sich selbst treu zu bleiben, etwas zu Ende zu führen. Das heißt, zu beenden, was man beginnt, verlässlich und vertrauenswürdig gegenüber sich selbst zu sein. Durch ein voreiliges Aufgeben verlieren wir oft mehr als die Sache, nämlich unser Vertrauen in uns selbst.
Veröffentlicht am 09.03.2022