Robert Klinglmair, seit rund einem Jahr Kärntner Bildungsdirektor, spricht über die Notwendigkeit der Ganztagsschule aufgrund einer veränderten Gesellschaft, den möglichen Verteilungskampf um Ressourcen sowie die gewünschte Chancengerechtigkeit.
„Bei 300 SchulabbrecherInnen muss man sich fragen, ob Zusatzangebote notwendig sind oder ob man sich nicht lieber auf die Grundkompetenzen konzentrieren sollte.“ Robert Klinglmair, Bildungsdirektor für Kärnten Foto: LPD Kärnten/Helge Bauer
weekend: Mit der Geburt der Bildungsdirektionen wurde (wiedermal) eine Bildungsreform gestartet. Was hat sich im vergangenen Jahr getan? Robert Klinglmair: Die Bildungsreform ist ein mindestens zehnjähriger Prozess. Wenn Sie es so wollen: Wir befinden uns auf einem Marathon, stehen aber noch bei Kilometer zwei.
weekend: Weil? Robert Klinglmair: Es bleibt kein Stein auf dem anderen. Viele der Neuerungen und ihre Vorteile müssen sich erst im Bewusstsein der Betroffenen - PädagogInnen, Eltern und Öffentlichkeit - verankern. Man sollte diese Chance aber nutzen, um die Bildung zukunftstfit zu machen.
weekend: Die Bildungsdirektion wird gern als die allmächtige Institution präsentiert, dabei hat sie ja gar nicht so viel Macht. Robert Klinglmair: Viele setzen die Bildungsdirektion mit der Bildungsreform gleich, dabei sind wir nur ein Teil davon. Die neue Behörde ist nicht mit jener umfassenden Kompetenz ausgestattet, wie dies oft dargestellt wird; viele davon liegen nach wie vor bei anderen Stellen. Das Budget für die BundeslehrerInnen kommt etwa vom Bund, das für die LandeslehrerInnen vom Land, für Sanierungen bzw. Umbauten gibt es einen eigenen Topf und für die Infrastruktur (Stichwort Digitalisierung, Tablets usw.) sind wiederum die jeweiligen Schulerhalter zuständig.
weekend: Nehmen wir die Ausbildung der PädagogInnen als Beispiel. Etwa für den geplanten Ethikunterricht.
Robert Klinglmair: Die PädagogInnen für den Ethikunterricht befinden derzeit in der Ausbildung, die allerdings nicht in den Kompetenzbereich der Bildungsdirektion fällt. Demnach haben wir keinen wesentlichen Einfluss darauf, wie die Ausbildung, das Studium oder die Fortbildung ausgestaltet sind. Es gibt allerdings eine Steuerungsgruppe, in der wir eng mit der pädagogischen Hochschule zusammenarbeiten und unsere Bedarfe platzieren können, ob und wie diese umgesetzt werden, obliegt aber jemand anderem.
weekend: Nicht nur der Ethikunterricht soll kommen. Derzeit ist auch das neue Schuleingangsscreening in der Pilotphase. Warum ist hier eine Modernisierung notwendig? Robert Klinglmair: In manchen Bundesländern wurden in der Vergangenheit mehr als 20 Prozent der Kinder in die Vorschule zurückgestuft, in anderen Bundesländern ging diese Zahl gegen Null, in Kärnten lagen wir im Mittelfeld. Jede/r SchulleiterIn hatte bisher sein/ihr eigenes System und konnte autonom entscheiden; dementsprechend subjektiv waren dann auch die Ergebnisse. Mit einem modernen System soll das Schuleingangsscreening vereinheitlicht werden. Derzeit wird es an 50 Kärntner Schulen pilotiert und soll ab 2021/2022 österreichweit verpflichtend eingeführt werden.
weekend: Eine weitere Neuerung der Bildungsreform heißt „Aus Lernraum Schule wird Lebensraum Schule“. Ist das nicht zu viel Schule? Robert Klinglmair: Mit „Lebensraum Schule“ ist die flächendeckende Einführung der Ganztagsschulform gemeint - und diese scheint in einer veränderten Gesellschaft notwendig. Schule muss heute einfach viel mehr Aufgaben übernehmen als noch vor 20 Jahren, soll dies aber in genau der gleichen Zeit schaffen. Auch die veränderten Familienstrukturen - viele Alleinerziehende bzw. beide Eltern müssen erwerbstätig sein - haben zur Folge, dass Schulen nun auch Erziehungsaufgaben übernehmen und somit weniger Zeit für die Ausbildung der Grundkompetenzen bleibt. In einer Ganztagsschule kann man beide Aufgaben miteinander kombinieren.
weekend: Nehmen Sie damit nicht den Eltern ihre Aufgabe ab bzw. weg? Robert Klinglmair: Damit unser Bildungssystem zukunftsfit gemacht werden kann, müssen auch die Eltern ihren Teil beitragen. Sie sind beispielsweise - in Zeiten der Digitalisierung - gefordert, ein wachsames Auge auf ihre Kinder zu haben, ihnen das Internet, vor allem die Gefahren (Stichwort Cybermobbing etc. und einen maßvollen Umgang mit dem WWW beizubringen. Ohne die Eltern wird es – hinsichtlich dieses Aspektes aber zahlreicher weiterer Herausforderungen – nicht gehen.
Robert Klinglmair ist seit rund einem Jahr Bildungsdirektor in Kärnten. Er lebt seit 13 Jahren in Klagenfurt und war als Volkswirt Assistenzprofessor an der Universität Klagenfurt Foto: LPD Kärnten/Helge Bauer
weekend: Ein weiterer wichtiger Reformpunkt, der Ihnen am Herzen liegt, ist die Chancengerechtigkeit? Robert Klinglmair: Kinder sollen unabhängig von ihrer finanziellen und sozialen Herkunft die gleiche Chance auf Bildung haben - was derzeit in Österreich vergleichsweise gering ausgeprägt ist, obwohl dieser Grundsatz sogar in unserer Verfassung verankert ist. Jede Studie zeigt: Je schwieriger die soziale Herkunft, desto geringer sind auch die Chancen auf Bildungserfolg. Und genau für diese Risikogruppe - immerhin sind das 20 bis 25 Prozent der SchülerInnen - eignet sich die Ganztagsschule, idealerweise in verschränkter Form oder ein Monitoringsystem.
weekend: Was meinen Sie mit "Monitoringsystem"? Robert Klinglmair: Es ist nicht zielführend, wenn erst am Ende der Schulpflicht feststeht, dass wir so viele RisikoschülerInnen haben, die drohen beim Übergang in einer weiterführende Ausbildung aus dem System zu kippen. Vielmehr sollen RisikoschülerInnen schon beim Übergang von der Volksschule in die Sekundarstufe 1 identifiziert werden - dann haben wir noch fünf Jahre Zeit, mit entsprechenden Förder- bzw. Unterstützungsmaßnahmen gegenzusteuern. Ein solches Monitoringsystem ist gerade in Ausarbeitung und soll bereits im kommenden Schuljahr in Kärnten pilotiert werden
weekend: Bleibt die Frage nach der Finanzierung. Es sind immer weniger SchülerInnen, die Schulen bekommen weniger Geld. Wie soll man diesen Mehraufwand (Ganztagsschule, spezielle Förderungen usw.) bezahlen? Robert Klinglmair: Das stimmt, der Kuchen wird nicht größer. Aber man könnte ihn anders verteilen.
weekend: Mittels Schulschließungen? Robert Klinglmair: Nicht zwingend, man kann auch das System durchforsten und sich Ressourcen freischaufeln. Etwa ansehen, wofür das Lehrpersonal eingesetzt wird. Diesem Verteilungskampf müssen wir uns einfach stellen. Beispiel: Zusatzangebote wie Chor oder Theater sind begrüßenswert. Aber auch dann, wenn die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen dermaßen schlecht sind, dass viele Jugendliche nach der Schulpflicht nicht in eine weitere Ausbildung integriert werden können? Wir wissen, dass das Risiko für Arbeitslosigkeit bei Schulabbrechern drei Mal höher ist. Damit einher gehen Langzeitarbeitslosigkeit, eine höhere Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung, geringes Interesse an Politik und gesellschaftlichen Vorgängen, psychosoziale Belastungen – ein frühzeitiger Bildungssabbruch setzt gerade in einer Wissensgesellschaft eine Abwärtsspirale mit hohen individuellen Konsequenzen in Gang. Gerade wenn wir händeringend nach Fachkräften suchen und die Gefahren des demographischen Wandels immer spürbarer werden, gilt es dieser Entwicklung proaktiv zu entgegnen, von dem nicht nur unsere Kinder und Jugendlichen sondern der Wirtsschaftsstandort und die Gesellschaft insgesamt profitieren werden.
Foto: LPD Kärnten/Helge Bauer
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